Der Lernstoff und seine Aufbereitung
13 Regeln aus der Lernbiologie
von Frederic Vester

1. Lernziele kennen
 Dem Lernenden müssen zu jedem Zeitpunkt Wert und Bedeutung eines Lernstoffs persönlich einsichtig sein. Nur dann werden Antrieb und Aufmerksamkeit geweckt, der Schüler zum Lernen motiviert, der Organismus auf »Aufnahme« gestimmt und der Inhalt sinnvoll gespeichert. Die Information wird »tiefer- verankert, weil dann über die kognitiven Verarbeitungsregionen der Gehirnrinde hinaus z. B. auch das limbische System »emotional « mitbeteiligt ist.

 2. Sinnvolles Curriculum
 Lernstoff, dessen Nutzanwendung weder aus seiner Beziehung zur Wirklichkeit noch aus vor-hergehenden Lerninhalten einsehbar ist, wird bereits schlecht im Gedächtnis verankert (siehe oben). Zum andern ist er später wertlos, da er isoliert gespeichert und für weitere Gedankenverbindungen dann nicht verfügbar ist. Reihenfolge und Aufbau eines Themas oder Unterrichtsgebiets sind daher nach realen Lernzielen und nach ihrer Verständnisfolge zu gliedern und nicht nach historischen oder fachsystematischen Gesichtspunkten.

 3. Neugierde kompensiert Fremdeln
 Wo Neugier, Faszination und Erwartung fehlen, wird die so wichtige Lernbereitschaft für einen zunächst fremden Stoff nicht geweckt. Vielmehr löst die Konfrontation mit dem Ungewohnten dann über das Zwischenhirn und den Sympathikusnerv eine direkte Stimulation von Cate-cholaminen - auch in bestimmten Gehirnregionen - aus, was bei geringen Streßreizen vielleicht noch das Behalten, aber nicht das Verstehen ermöglicht und bei stärkeren Reaktionen zudem die Abwehrhaltung gegen den Lernstoff zementiert. Die Konsolidierung und Verarbeitung der aufgenommenen Information kann nicht mehr erfolgen.

 4. Neues alt verpacken
Unbekannt = feindlich = Streß. Die dadurch ausgelöste negative Hormonlage blockiert wie oben erwähnt das Denken und Kombinieren und verhindert, daß sich der Stoff assoziativ verankert. Vertraute »Verpackung« mildert dagegen die Abwehr gegen das Unbekannte und vermittelt darüber hinaus durch das Gefühl des Wiedererkennens ein kleines Erfolgserlebnis, und der Trend geht in Richtung lernpositiver Hormonlage.

 5. Skelett vor Detail
 Größere Zusammenhänge hängen selbstredend immer irgendwie mit der alltäglichen Erlebniswelt, also mit Vertrautem zusammen. Eine solche Information ist daher im Gegensatz zu den Details nie allzu fremd. Sie wird sich eher auf vielen Ebenen im Gehirn verankern können und ein empfangsbereites Netz für später angebotene Details bieten, so daß diese »saugend« aufgenommen werden.

 6. Interferenz vermeiden
Zusatzwahrnehmungen ähnlichen Inhalts stören oft das Abrufen der innerhalb des Ultrakurzzeit-Gedächtnisses kreisenden Erstinformation. Sie lassen diese ohne feste Speicherung abklingen und verhindern so das Behalten. Besser ist es, die Erstinformation zunächst ins Kurzzeit-Gedächtnis abzurufen, d.h. an bekannten Gedankeninhalten zu verankern, und dann erst »Variationen über das Thema« anzubieten.

 7. Erklärung vor Begriff
 Durch eine Erklärung von Tatsachen oder Zusammenhängen (ohne noch den zu erklärenden Begriff zu nennen) werden entsprechend unserer fünften Regel bereits bekannte Assoziationsmuster geweckt, an denen dann der eigentliche neue Begriff - auf den man nun neugierig ist - fest verankert werden kann.

(Muster : Erklärung....... Dies bezeichnet man als .....[Schulbücher werden so geschrieben])

 8. Zusätzliche Assoziationen
 Durch veranschaulichende Begleitinformation und Beispiele erhält eine neue Information gleichsam ein Erkennungssignal für das Gehirn. Operationale (anschauliche) Darstellung läßt weitere Eingangskanäle und sonst nicht benutzte haptische (= anfassen) und motorische Gehirnregionen mitschwingen. Das garantiert bessere Übergänge ins Kurzzeit- und Langzeit-Gedächtnis und bietet vielseitigere Möglichkeiten, die Information später abzurufen.

 9. Lernspaß
Spaß und Erfolgserlebnisse sorgen für eine lernpositive Hormonlage und damit für ein reibungs-loses Funktionieren der Synapsen und des Kontaktes zwischen den Gehirnzellen. Daher werden mit positiven Erlebnissen verknüpfte Informationen besonders gut verarbeitet und verstanden und ebenfalls wieder vielseitig (und somit »anwendungsbereiter«) im Gedächtnis verankert.

 10. Viele Eingangskanäle
 Den Lernstoff über möglichst viele Eingangskanäle (Sehen, Hören, Anfassen, Lesen) anbieten, einprägen und verarbeiten. je mehr Wahrnehmungsfelder im Gehirn beteiligt sind, desto mehr Assoziationsmöglichkeiten für das tiefere Verständnis werden vorgefunden, desto größer werden Aufmerksamkeit und Lernmotivation, und desto eher findet man die gelernte Information wieder, wenn man sie braucht.
 

11. Verknüpfung mit der Realität
 Den Lerninhalt möglichst viel mit realen Begebenheiten verbinden, so daß er wie in Punkt 10 »vernetzt« verankert wird. Werden reale Erlebnisse angesprochen, so wird der Lerninhalt trotz zusätzlicher Information eingängiger (Aufnahme als »Muster« statt als »lineare Folge«). Bei der anschließenden Verfestigung des Gelernten (Konsolidierung) wirkt dann die reale Umwelt als unentgeltlicher und unbemerkter »Nachhilfelehrer«, weil sie das Gelernte zum Mitschwingen bringt.

I2. Wiederholung neuer Information
 Jeden Lernstoff in Abständen wiederholt aufnehmen. Wenn eine Information wiederholt über das Ultrakurzzeit - Gedächtnis (aber nicht innerhalb der Zeitspanne des UKG (ca. 20 s.)) aufgenommen wird, kann sie mit mehreren vorhandenen Gedächtnisinhalten assoziiert werden. Vorstellungen und Bilder werden geweckt, die die vielen Wahrnehmungskanäle eines echten Erlebnisses teilweise ersetzen und eine Einkanal - Information wenigstens innerlich zur Mehrkanal - Information machen, quasi zu einem inneren Erlebnis.

 13. Dichte Verknüpfung
 Eine dichte Verknüpfung aller Fakten eines Unterrichts, eines Buches oder einer Aufgabe miteinander stärkt die Punkte 4, 5, 8, 10 und 11, vermittelt Erfolgserlebnisse und fördert das Behalten wie auch das kreative Kombinieren ohne zusätzlichen Aufwand. Eine solche Verknüpfung und Abstimmung gilt natürlich auch für diese dreizehn Punkte selbst. Man sollte sie für jeden praktischen Fall abwägen und mit dem jeweiligen Lerntyp in Einklang bringen.


Nachbemerkung :

 Informationen werden zuerst im Ultrakurzzeitgedächtnis (UKG), dann, wenn sie weiter benötigt werden, im Kurzzeitgedächtnis (KG) gespeichert, anschließend – falls erforderlich – ins Langzeitgedächtnis (LG) übertragen.
 

Information ---> UKG (20s) ---> KG (20 min.) ----> LG

Was bedeutet das nun speziell für unser Lernen? Bei Dingen, die wir selbst intensiv erleben, genügt ja oft eine einmalige Aufnahme zur permanenten Speicherung, das heißt, wir können uns ein Leben lang daran erinnern. Beim Lernen dagegen, wo ein Stoff gewöhnlich nicht erlebt, sondern eben nur gehört oder gelesen wird, ist das freilich schwieriger. Wie wir wissen, sollten wir alles zu Lernende, also jede neue Information, mehrfach wiederholt aufnehmen. Sie muß wiederholt über das Ultrakurzzeit - Gedächtnis angeboten werden. Offenbar muß dabei unser Gehirn die neue Information mit bereits vorhandenen Gedächtnisinhalten assoziieren. Es muß Vorstellungen und Bilder zusammenbringen, um die vielen Wahrnehmungskanäle eines echten Erlebnisses, wie sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen, anfassen und sich bewegen, wenigstens teilweise zu ersetzen. Das heißt, wir müssen solche Ein-Kanal-Informationen dann wenigstens innerlich zu Mehr – Kanal - Informationen machen - quasi zu einem inneren Erlebnis. Und damit wird auch schon gleich der Weg für die spätere Wiederauffindung durch Assoziationen gebahnt: je mehr passende Assoziationen, je mehr Möglichkeiten einer vielfältigen Zuordnung schon da sind, um so weniger muß der Stoff gepaukt werden, und um so besser ist er aus dem Langzeit - Gedächtnis - selbst auf eine ungewohnte Anfrage hin abrufbar.
 

entnommen aus : Frederic Vester, "Denken, Lernen, Vergessen" , Stuttgart 1975